Autor: Dipl.Ing.(FH) Stephan Eitler, MSc
DER RÜCKEN KLETTERT MIT
Die Sonne strahlt vom Himmel – die Berge rufen nach Kletterfreudigen. Das ist doppelt gut: Zum einen betätigt man sich an der frischen Luft, zum anderen schmeckt eine Jause bei guter Aussicht besser und ganz nebenbei ergeben sich ansehnliche Bilder für Instagram und Co. Da aber aller guten Dinge drei sind, gibt es noch einen weiteren Benefit: Klettern kann dem Rücken helfen, weshalb die Sportart bereits vielfach in das Behandlungsspektrum orthopädischer, neurologischer sowie psychischer Erkrankungen aufgenommen wurde. Der dazugehörige Fachbegriff: „therapeutisches Klettern“.
„Konkret lässt sich diese Therapieform z.B. bei Knieoperierten, bei Kindern und Erwachsenen mit Haltungsschäden (Skoliose), bei Parkinsonpatienten, bei Personen mit chronischen Wirbelsäulenbeschwerden und Kindern mit sensomotorischen Defiziten etc. anwenden“, betonte etwa die Gesundheitswissenschaftlerin Veronika Leichtfried anlässlich des Fachsymposiums „Bergsport und Gesundheit“ im November 2016. Auch bei Wirbelsäulenverkrümmungen dient das Klettern mittlerweile als unterstützende Behandlungsmethode. Denn: Von der kleinen Zehe über die Finger bis in den Nacken herrscht Spannung. Die Steig- und Greifbewegungen stärken insbesondere die Rücken- und Bauchmuskulatur und sorgen dadurch für mehr Stabilität im Rumpf.
Gleichzeitig ist das Gehirn fokussiert, die Sinne werden geschärft – Körper und Geist verfolgen dasselbe Ziel. Ein Satz, der banal klingt, aber umso wichtiger wird, wenn man bedenkt, wie sehr Rücken und Ratio im Austausch stehen: „Neben Bewegungsmangel und falscher Körperhaltung können sich auch psychische Faktoren wie Stress, innere Anspannung und Blockaden negativ auf den Rücken auswirken“, bestätigte Leichtfried, die seit 2005 an der Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT) lehrt. Das Klettern vermag es, hier Abhilfe zu schaffen: Die ständige Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen steigert die Ausdauer, erhöht die Muskelkraft, fördert die Körperwahrnehmung, hebt das Selbstwertgefühl und erhärtet die Selbstsicherheit, argumentierte die Medizinerin.
Kaum verwunderlich, dass die Sportart – von Eisklettern bis Bouldern – heute auch bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen eingesetzt wird. Der Hintergrund: Durch die Umgebung am Berg wird räumliche und mentale Distanz zu den Alltagssorgen geschaffen. Hinzu kommt: Klettern ist Teamarbeit. Man einigt sich auf eine Route, sichert sich gegenseitig, motiviert einander, lernt Vertrauen – Faktoren, die Einzelne schon vielfach vor der sozialen Isolation bewahrt haben.
Und das, obgleich das „therapeutische Klettern“ eine vergleichsweise junge Disziplin ist. Von einzelnen Therapeuten, die selbst passionierte Kletterer waren und ihren Rückenklienten rieten, sich in der Vertikalen zu versuchen abgesehen, wurde es in den 1980er Jahren offiziell eingesetzt – im Strafvollzug. Die positiven Ergebnisse bei den Gefängnisinsassen führten dazu, dass Kletterbewegungen alsbald in der orthopädischen Rehabilitation Niederschlag fanden. Der Fokus liegt dabei auf muskuläre Ungleichgewichte und daraus resultierende Wirbelsäulen-, Schulter- und Kniegelenkprobleme. Der neurologische Bereich (Stichwort: Bouldern nach dem Schlaganfall) folgte. Ziel ist, die Ansteuerung des Nerven-Muskel-Systems zu verbessern.
Seit den Anfangsjahren wurden – parallel zum breiter werdenden Einsatzgebiet – zahlreiche (Pilot-)Studien zum Themenkomplex Rückenschmerzen und Klettern durchgeführt. Eine davon stammt aus dem Jahr 2011 von Michaela Weber und Kai Engbert von der Abteilung für Sportpsychologie der Technischen Universität München. Sie ließen zehn Personen mit chronischem Kreuzweh einen vierwöchigen Kletterkurs absolvieren. In Anschluss daran wurden die Probanden zu ihrem Befinden befragt: Sie fühlten sich deutlich gesünder als Teilnehmer, die zeitgleich ein Rückentraining ohne Kletterelemente mitgemacht hatten.
Bereits 55 Teilnehmer umfasste eine Pilotstudie von Marcel Dittrich, Gabi Eichner, Andreas Bosse und Wolfgang Fritz Beyer von 2014. Die Berufstätigen, die alle an unspezifischen Rückenschmerzen litten und zwischen 30 und 65 Jahre alt waren, wurden angehalten, ein zwölfmal 30-minütiges therapeutisches Klettertraining durchzuführen. Das Ergebnis: Die Intensität ihrer Schmerzen verringerte sich, während sich die Motorik der Teilnehmer verbesserte. Zudem steigerten sie ihre Rumpfkraft ebenso wie ihre Bewegungsfähigkeit.
Doch Obacht: Aus den Studienergebnissen gleich den Schluss zu ziehen, Kletterer würden wegen ihres trainierten Rückens, ihrer gedehnten Sehnen und ihrer etlichen Aufenthalte in der Natur nie unter Stress, Sorgen und Rückenschmerzen leiden, kann so nicht gezogen werden. Denn: Die Menge macht’s. Und die Abwechslung.
Mit den Worten des Sportorthopäden Thomas Hochholzer und des Physiotherapeuten Martin Schlageter (seines Zeichens auch langjähriger Berater der deutschen Kletter-Nationalmannschaft) gesprochen: „Ursachen für Rückenbeschwerden sind vielfältiger Natur. Veranlagung, Wirbelsäulenform, Psyche und Muskeltonus bestimmen die Haltung. Berufliche, sportliche und Alltagsbelastungen spielen eine Rolle in der Entwicklung von Beschwerden. In erster Linie sind jedoch lang andauernde Fehlbelastungen für die Entwicklung von Wirbelsäulenbeschwerden maßgebend.“ So gaben u.a. 2010 rund 70 Prozent der Sportkletterer bei einer Umfrage an, seit sie den Sport ausüben, zumindest einmal an stärkeren Rückenschmerzen gelitten zu haben.
Sehr häufig, wie Hochholzer und Schlageter festhalten, ist (v.a. bei jüngeren Kletterern) ein ausgeprägter Rundrücken (ein wachsendes Skelett reagiert besonders empfindlich auf einseitige Reize). Der Grund: Beim Klettern führt „die Hauptbewegung der Arme während der Belastung von ‚oben-außen‘ nach ‚unten-innen‘“. Ein stereotypes Muster, welches „einseitige Belastungen und Überlastungen der beteiligten Muskulatur“ bedingt.
Genauer betrachtet: Es werden vorwiegend die Unterarmflexoren beansprucht. Die Folge: Die Beugemuskulatur wird übermäßig angespannt. Dieser „erhöhte Tonus der Unterarmbeuger setzt sich über die Muskelschlingen über Bizeps und Brachialis weiter in den Rumpf fort“, so die beiden Experten. Das Ergebnis: eine verkürzte und verspannte /verhärtete ventrale Muskelkette. Und damit nicht genug: Durch die verstärkte Krümmung des Rückens können Rippengelenke und Brustwirbelkörper blockieren, letzteres wiederum Überstreckungen der Hals- und Lendenwirbelsäule bedingen. (Detail am Rande: Achten Sie einmal auf die Hände von exzessiven Kletterern, Sie werden feststellen, dass – sofern die Betroffenen nicht ebenso exzessiv dehnen, abwärmen und haltungsförderndes Krafttraining machen – ihre Finger auch im entspannten Zustand fast geschlossen sind.)
Um das Klettern vollends genießen zu können, sollten daher folgende Schritte beachtet werden: Ärztlich abklären lassen, ob die Disziplin zu einem passt, oder Diagnosen dagegen sprechen. Eine Ausrüstung zulegen. Unter professioneller Aufsicht trainieren – und Einseitigkeiten vorbeugen, respektive gegensteuern. Für letzteres eignen sich etwa Übungen mit dem Pezziball, um die Bauchmuskulatur zu dehnen, sowie Dehnungen des großen und kleinen Brustmuskels im Kniestand oder in Seitenlage. Ein zusätzliches Training mit freien Gewichten oder an Seilzügen wirkt sich, wie auch Hochholzer und Schlageter betonen, ebenfalls positiv auf die Haltung aus.
Und nicht zu vergessen: abwärmen! Sprich: Den Körper langsam auf Normalbetrieb zurückfahren, damit sich das in den Muskeln gesammelte Laktat schneller verteilen und die Regeneration rascher einsetzen kann. Dienlich hierfür sind am Ende einer Tour beispielsweise eine kurze, leichte Route oder Bouldereinheit. Und dann bleibt eigentlich nur noch zu sagen: Ihr Rücken wird es Ihnen danken – Ihr (digitales) Fotoalbum ebenso.
DAS WICHTIGSTE ZUSAMMENGEFASST
Seit den 1980er Jahren wird das Klettern als therapeutische Maßnahme eingesetzt. Anfangs im Strafvollzug eingesetzt, findet man es mittlerweile auch in der orthopädischen Rehabilitation sowie im neurologischen Bereich. Parallel dazu wurden zahlreiche Studien durchgeführt. 2011 absolvierten etwa zehn Personen mit chronischem Kreuzweh einen vierwöchigen Kletterkurs – und fühlten sich danach deutlich gesünder als Teilnehmer, die ein Training ohne Kletterelemente mitgemacht hatten. 2014 durchliefen 55 Personen mit unspezifischen Rückenschmerzen ein zwölfmal 30-minütiges therapeutisches Klettertraining. Auch hier verringerte sich die Schmerzintensität, während sich ihre Motorik und Rumpfkraft verbesserte.
„Konkret lässt sich diese Therapieform z.B. bei Knieoperierten, bei Kindern und Erwachsenen mit Haltungsschäden (Skoliose), bei Parkinsonpatienten, bei Personen mit chronischen Wirbelsäulenbeschwerden und Kindern mit sensomotorischen Defiziten etc. anwenden“, betont die Gesundheitswissenschaftlerin Veronika Leichtfried. Denn: Die Steig- und Greifbewegungen stärken die Rücken- und Bauchmuskulatur und sorgen für mehr Stabilität im Rumpf. Gleichzeitig steigert die ständige Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen die Ausdauer, die Muskelkraft, die Körperwahrnehmung und bessert das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit.
Doch Achtung: Einseitige Bewegungsmuster können Haltungsschäden und damit Rückenschmerzen auslösen (Stichwort: Rundrücken). So werden beim Klettern vorwiegend die Unterarmbeuger angespannt. Dieser erhöhte Tonus setzt sich über die Muskelschlingen bis in den Rumpf fort. Die Folge: verkürzte und verspannte Muskeln, wodurch wiederum Rippengelenke und Brustwirbelkörper blockieren, Hals- und Lendenwirbelsäule überanstrengt werden können. Um gegenzusteuern sollte bewusst gedehnt werden – allen voran die Bauch- und Brustmuskulatur. Auch ein Training mit freien Gewichten oder an Seilzügen kann Haltungsschäden vorbeugen.
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LITERATURHINWEISE
>>> Fachtagung „Bergsport und Gesundheit“, 2016
https://www.alpenverein.at/symposium_wAssets/docs/unterlagen/Alpenverein_Tagungsband-Fachsymposium-Bergsport-Gesundheit.pdf
>>> Studie von Michaela Weber und Kai Engbert, 2011
http://www.kai-engbert-sportpsychologie.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Publikationen/Engbert___Weber__2011_.pdf
>>> Studie von Dittrich, Eichner, Bosse und Bayer, 2014:
https://www.rehafachzentrum.de/SBKRFZ/fuessing/Inhalt/4_aerzte_zuweiser/6_rehaforschung/01_abgeschl_forschung/Fachzeitschrift_TK_Studie.pdf?__blob=publicationFile&v=1
>>> Bericht von Hochholzer, Schlageter, 2010: http://www.sportstudenten.at/uploads/tx_skripte/Haltungsver_c3_a4nderungen_20bei_20Kletterern.pdf
kraftvolle Grüße
Dipl.Ing.(FH)
Stephan Eitler, MSc